Eine meiner ersten Fotoreportagen führte mich 1990 nach Rumänien. Mein ungarischer Onkel hatte mir von nomadischen Hirten erzählt, die in den Sommermonaten mit ihren Schafherden durch die Karpaten in Siebenbürgen zogen. Jetzt wollte ich wissen, ob es sie auch wirklich gibt?

Siebenbürgen, immerhin Transsilvanien, Graf Dracula und so…! Für meinen Freund Jürgen und mich, der wie ich Fotograf werden wollte, klang das sehr abenteuerlich. Wir knüpften Kontakte nach Rumänien, liehen uns Equipment, kauften ein altes Auto und fuhren zu zweit los.

Nur wenige Monate zuvor hatte sich das rumänische Volk mit Hilfe der Volksarmee von dem grausamen Diktator Nicolae Ceausescu befreit. Wir hatten die Verbrechen, die die Securitate an der Bevölkerung begangen hatte in den Medien verfolgt. Wir waren sehr gespannt, in was für ein Land wir fahren würden.

Nach einer Wartezeit von einem Tag, passierten wir die rumänische Grenze in Ungarn bei Kiszombor. Auf der anderen Seite angekommen, zeigte sich uns ein unglaubliches Bild. Am Straßenrand sahen wir verwahrloste, teils abgemagerte Kinder, die uns Autofahrer anbettelten. Das hatten wir nicht erwartet! Es wirkte so unwirklich, denn immerhin befanden wir uns doch in Europa! Verunsichert und aus Sorge überfallen zu werden, fuhren wir durch bis nach Cluj-Napoca in Siebenbürgen, wo wir mit unserem Scout und Dolmetscher verabredet waren.

 

 

Um möglichst unauffällig zu sein, hatten wir uns für die Reise vorsorglich einen alten englischen Austin A40 gekauft, der uns auch sicher über die engen und steilen Schotterstraßen der Karpaten brachte. Durch unser ausländisches Kennzeichen privilegiert, mussten wir uns vorbei an kilometerlangen Warteschlangen bei den Tankstellen immer ganz vorne anstellen! Das war für uns beschämend, denn Benzin für die eigene Bevölkerung gab es kaum.

 

Wir waren angekommen und erkundeten die wunderschöne, grünsaftig hügelige Landschaft der Süd-Karpaten. Schon nach ein paar Stunden trafen wir auf unseren ersten Schäfer. Der hatte sich abseits von seiner Herde müde auf die Wiese gelegt. Er begrüßte uns freundlich, wunderte sich aber, dass wir unbemerkt von seinen Hunden überhaupt so nah an ihn herangekommen waren. Was für Hunde?

 

 

Eine durchschnittliche Herde besteht aus ca. 1.200 Schafen, geführt von 2 – 3 Hirten und bewacht von ca. 12 Hunden. Diese teils riesigen Tiere liegen versteckt im hohen Gras und bilden immer exakt einen imaginären Kreis um die Herde, sodass sich kein Schaf unbemerkt davonmachen kann. Ihre eigentliche Aufgabe ist aber der Schutz der Herde, einschließlich der Hirten, vor angreifenden wilden Bären und Wölfen! Um selber nicht todgebissen zu werden, tragen manche von ihnen mit Stacheln versetze schwere Halsbänder. Nachts konnte man sehr nah die Wölfe heulen hören. Gesehen haben wir von den Wildtieren in den zwei Wochen allerdings keine. Stolz zeigten uns die Schäfer ihre eigenen Narben und Verletzungen die sie von Kämpfen mit Braunbären davongetragen hatten.

Wir trafen einige Herden. Doch die Begegnung mit dem ersten Hirten war so sympathisch, dass wir uns an ihn hielten. Seine Gruppe bestand aus den zwei Brüdern Nicolae und Alexandru, beide so um die 70 Jahre alt und einem 12 jährigen Waisenjungen Mihail, den sie bei sich aufgenommen hatten. Diese reinen Männergesellschaften leben von Frühling bis Ende Herbst zusammen in den Karpaten. Nur im Winter wohnen sie unten im Tal bei ihren Frauen und Familien im Dorf.

 

 

Der Tag beginnt früh morgens bei Sonnenaufgang, denn dann muss die Hälfte aller Schafe per Hand (!) gemolken werden. Eine fast dreistündige Prozedur. Die gewonnene Milch wird in großen Kupferkesseln auf offenem Feuer erhitzt und später zu Käse verarbeitet. Der angedickte Käse wird 1 – 2 Mal die Woche vom dem Besitzer der Herde abgeholt und in der Stadt direkt verkauft, oder zur Reifung auf seinen Hof gebracht. Er ist es auch, der die Schäfer mit Lebensmitteln und anderen Dingen wie Tabak, Schnaps und Zeitungen versorgt. Dann kommt der gemütliche und fast besinnliche Teil des Tages. Auf langen Holzstöcken an der Brust aufgestützt, stehen die Schäfer den ganzen Tag über auf den hügeligen Wiesen und hüten zusammen mit ihren Hunden die Herde. Fast unmerklich ziehen sie dabei immer um einige Meter weiter.

 

 

Wenn man in die, von der Sonne gegerbten Gesichter schaut, sieht man in sehr wachsame Augen. Dabei herrscht eine absolute Ruhe und totale Gelassenheit – eine friedliche und nahezu meditative Stimmung. Alles erscheint richtig, genau so wie es gerade ist. Achtsam sein und bewusst wahrnehmen, ein bisschen Esoterik schwingt jetzt mit – Om-!  Die Schäfer fühlen sich wie sie sagen, ganz eng mit dieser wunderschönen Landschaft und der Natur verbunden. Das Gefühl von Heimat. Schon ihre Väter waren schließlich hier oben als Schafhirten und man stellt sich die Frage;

Gibt es etwas sinnvolleres im Leben, als einem Schaf beim Grasen zuzuschauen?

 

 

Zum Abend wird dann die andere Hälfte der Schafe gemolken und die Tiere werden in ein holzumzäuntes Gehege geführt. Inzwischen hat einer der beiden Brüder das Abendessen vorbereitet. Es gibt Brot, Wurst, Käse und natürlich Lammsuppe, die im großen Kessel auf dem Lagerfeuer gekocht wird. Sehr lecker, sehr männlich, aber vor allem sehr gemütlich. Hier in den Bergen haben sie eine eigentümlich blumige Sprache, einen Dialekt entwickelt, sodass unser Dolmetscher oft Probleme hatte die vielen Geschichten für uns zu übersetzten. Es klang wie eine Art Sprechgesang in Versform – Rap. Die Männer bekamen dann auch von uns Namen wie „Der Philosoph“ oder „Bärentöter“. Geschlafen wird getrennt in kleinen Einmann-Holzhütten auf einem Lager aus Schafwolle.

 

 

So lebten die Schäfer aus Siebenbürgen bis noch vor kurzem in den südlichen Karpaten, wie seit vielen hundert Jahren. Doch wahrscheinlich werden auch dort nicht nur GPS, Smartfones & Co die Welt verändert haben. Ich bin sehr dankbar dort gewesen zu sein. Bei Gelegenheit schau ich vielleicht einfach mal wieder vorbei.

Ruprecht Stempell, September 2016